Gesprächsthema Nummer eins heute morgen an der Schule war natürlich der Fall des neunjährigen Mitja. Eltern waren schockiert, sprachen Sätze wie „Die Kinder sind nirgends mehr sicher“ und „In Deutschland kommen solche Schweine noch viel zu gut weg“.
Fakt ist: Uwe Kolbig, der mutmaßliche Mörder des Kindes, wurde bereits wegen Missbrauchs verurteilt. Ob er damals Bewährung bekam oder eine Freiheitsstrafe verbüßen musste, war am Wochenende nicht bekannt, weil die Archive da nicht zugänglich sind; was an sich schon ein Skandal ist. Viel schlimmer ist aber, sollte sich der Verdacht bestätigen, dass mal wieder ein einschlägig bekannter Verbrecher erneut zuschlagen konnte. Und auch wenn wir im Jahr 2007 leben, kann man Eltern nur zu gut verstehen, wenn sie sich das Mittelalter, Teer und Federn zurückwünschen oder „das Schwein am Schwanz aufhängen“ wollen.
Ich möchte nicht in der Haut der Eltern stecken. Das Leid und den Schmerz kann sicher keiner nachvollziehen. Am Wenigsten aber auch die Selbstvorwürfe. Mitja wurde sonst immer von der Schule bzw. aus den Ferienspielen abgeholt. Nur am vergangenen Donnerstag durfte er allein nach Hause. Was soll auch passieren, am hellichten Nachmittag, in der voll besetzten Straßenbahn? Sind ja nur zwei Haltestellen. Dieser Fall wird wohl dafür sorgen, dass wir unserer fast achtjährigen Tochter auch weiterhin den Wunsch verweigern müssen, allein nach Hause gehen zu dürfen. Zu ihrem eigenen Schutz.
Interessant der Tenor in vielen Veröffentlichungen, auch in diesem Blog:
„Viel schlimmer ist aber, sollte sich der Verdacht bestätigen, dass mal wieder ein einschlägig bekannter Verbrecher erneut zuschlagen konnte. Und auch wenn wir im Jahr 2007 leben, kann man Eltern nur zu gut verstehen, wenn sie sich das Mittelalter, Teer und Federn zurückwünschen oder ‚das Schwein am Schwanz aufhängen‘ wollen.“
Ich finde diese als Verständnis für die Opfer verkleideten Rachefantasien erschreckend. Da klingt der Wunsch nach Folter, Pranger, Wegsperren für immer durch. Haben wir das Zeitalter der Aufklärung hinter uns und bewegen uns wieder Schritt für Schritt in ein mittelalterliches, vormodernes Strafsystem (a lá USA) zurück, das von einem ausgeprägten Rachegedanken geleitet wird? Langsam wird es gruselig.
Und glaubt mir: mir tut das Kind ebenfalls sehr leid.
Ich würde sagen, das ist die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Eltern, die da mitschwingt. Sicher leben wir in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat. Nur versetze dich bitte mal in die Lage der Eltern. Wo ist der Rechtsstaat, wenn „solche“ immer wieder freikommen, um sich dann das nächste Kind zu holen?
Wie heißen einige der Grundsätze des Journalismus? Sorgfältig die Fakten überprüfen, nach besten Wissen und Gewissen arbeiten, immer auch die andere Seite im Blick behalten und sich nicht(in Gedenken an Hajo Friedrichs selig…) mit einer Sache gemein machen. Und niemanden vorverurteilen. Kennst du den Fall Sebnitz noch, 2000, der kleine Joseph angeblich ertränkt von Neonazis? Da stießen auch alle Journalisten ins gleiche Horn, um am Ende zugeben zu müssen, dass sie auch nur hinter der Meute hinterhergehechelt hatten. Da wanderten Unschuldige in den Knast und dem Ort und seinen Menschen hat es nicht gerade geholfen.
Ist der Mann schon rechtskräftig verurteilt? Klar – er ist der dringende Tatverdächtige, aber solange kein Gericht sein Urteil gesprochen hat, gilt erst einmal die Unschuldsannahme. Sonst bräuchte man nämlich kein Gericht mehr (bzw. es würde darauf beschränkt, das Strafmaß festzulegen). Das nennt man Rechtsstaat. Und der Rechtsstaat ist keine Maschine, er ist ein von Menschen gemachtes Gebilde, das von Menschen umgesetzt wird. Und alle Menschen, die vom Rechtsstaat betroffen sind (also wir alle!), werden als gleichberechtigte Subjekte angesehen, also als selbständige Wesen mit eigenen Rechten und einer eigenen Würde angesehen, die ihnen niemand absprechen kann. Und das gilt für den kleinen Mitja, seine Eltern und auch für den Tatverdächtigen.
Wenn ich hier den Vorposter sehe, der sein Blog „Gemeinsam gegen Hass und Gewalt“ nennt, dessen Mitja-Artikel aber vor Hass und Vorverurteilung strotzt, dann frage ich mich, was für ein Geist dahinter steckt.
Nochmal: ich verteidige hier niemanden, und ich möchte auch nicht, dass verurteilte Mörder weiter morden dürfen, und ich kann mir vorstellen, dass die Eltern unendlich traurig und wütend sind. Aber deswegen nach Teer und Federn oder nach Lynchjustiz rufen (oder wie soll ich das Zitat mit dem Aufhängen verstehen?) ist ein vorzivilisatorischer Vorgang. Was aber nur zeigt, wie nahe Kultur und Barbarei nebeneinander liegen.
Du musst mir das alles nicht erklären – aus eben diesen gegebenen Gründen und Grundsätzen spreche auch ich von einem mutmaßlichen Mörder bzw. Verbrecher und nenne ihn indirekt einen Verdächtigen.
Ich habe nur Eindrücke von heute morgen widergegeben und persönliche, private Meinungen kundgetan. Wäre ich in der Situation, eine Meldung dazu zu schreiben, sähe die natürlich anders aus.
Ok.
„Und glaubt mir: mir tut das Kind ebenfalls sehr leid.“
Donnerwetter, eine ganze Zeile Mitleid für das Opfer.
@Gert Krüger:
Stimmt, ich habe nämlich Mitleid mit den Eltern und dem Kind, auch wenn ich nicht gleich nach dem Strick rufe. Hier gings auch nicht um Mitleid oder nicht, sondern um die Bewertung des Rufes nach Rache. Ich habe nicht den Eindruck, dass unbedingt das Mitleid mit dem Kind die Triebfeder ist.
Mitleid mit dem Kinde wäre – auch wenn es hart klingt – nach dessen Tod auch sinnlos. Wenn, dann Mitleid mit den Eltern. Triebfeder, wie Du es nennst, ist sicher auch weniger das Mitleid sondern die Gewissheit, dass der Täter hierzulande sowieso keine gerechte Strafe bekommt. Zumindest keine gerechte, die sich Eltern für „solche“ wünschen.
Geh mal raus, frag mal Eltern vor der Schule, die ihre Kinder abholen. Da sind meine Beobachtungen und aufgeschnappten Wortfetzen noch Kinderkram dagegen. Verurteilen mag ich die rachsüchtigen Eltern aber nicht – bei aller Demokratie und aller Befürwortung des Rechtsstaates.
„die Gewissheit, dass der Täter hierzulande sowieso keine gerechte Strafe bekommt“
Falls der mutmaßliche Täter auch tatsächlich der Täter war, dann hast du in diesem Fall Recht.
Das Opfer ist tot. In der Tat, Mitleid kommt da zu spät. Bleibt nur noch die Sorge, dass dem armen Täter ein Haar gekrümmt wird.
Ich weiß kein Heilmittel, dass den Trauernden hilft, aber mich schüttelt es, wenn Unbeteiligte den in der ersten Reaktion nach Rache schreienden Eltern Moralpredigten halten.
Daß Hangtäter entlassen werden, ist doch lange bekannt. Es ist auch seit langem bekannt-z.B. durch Interviews mit Frank Schmökel- daß geschickten Leuten es immer wieder gelingt, ihre Therapeuten und Gutachter auszutricksen.
Solange immer nur kurz Erregung hochkocht, wenn es neue Taten gibt, die Bevölkerung aber das ganze Resozialisierungskonzept von Hangtätern nicht in Frage stellt, wird sich nichts grundsätzlich ändern.