Der alte Mann steht ratlos vor dem Newton-Pendel. Sechs Kugeln hängen an Seilen hintereinander. Stößt man eine Kugel an die restlichen fünf, bewegt sich nur die letzte Kugel in der Reihe. „Probieren Sie es“, ermutigt Ein-Euro-Jobberin Jenny Klaus den an Demenz erkrankten Rentner und führt seine Hand behutsam an eine der Kugeln.
„Macht sie das nicht toll?“, fragt Hans Werner Bärsch. „Eigentlich bräuchten wir mehr solcher engagierten jungen Leute, aber die Pflegeversicherung lässt nicht mehr zu“, bedauert der 63-Jährige. Seit Juli 1998 leitet Bärsch das Altenpflegeheim Brandis an der Bergstraße. Er kennt die Probleme bei der Betreuung nur zu gut. „In Sachsen kommen auf eine Pflegekraft laut vorgeschriebenem Personenschlüssel im Durchschnitt 3,08 Demenzkranke. Es könnten aber höchstens 2,2 sein, um eine optimale Umsorgung garantieren zu können“, rechnet er vor.
Bärsch ist nicht irgendein Heimleiter. Er ist anders. Rüstig vor allem. Und ideenreich. So entwickelte er unter dem Namen „Familienorientierte Wohnbereichspflege“ einen neuen Ansatz zur Pflege Demenzkranker. „Wir haben festgestellt, dass man auffällig demente Personen extra betreuen muss. Nur zusammen in dieser Gruppe können sie vernünftig betreut werden.“ Und so schuf er ein Konzept, das 2002 in der Errichtung eines Neubaus gipfelte. Dreißig Bewohner – zehn auf einer Etage – leben wie in einer Familie miteinander. „Es kann gekocht, gespielt, Musik gehört, Fernsehen geschaut oder Hauswirtschaft betrieben werden, eben wie bei anderen zuhause auch“, veranschaulicht Hans Werner Bärsch.
Damit sich die Bewohner auch wirklich zuhause fühlen, darf jeder von ihnen ganz persönliche Dinge mitnehmen. Eine alte Kommode beispielsweise. Oder eine Garderobe mit Spiegel. Zudem ist jede Etage bewusst ähnlich einer Wohnung aufgebaut. Lange Gänge wie in einem üblichen Pflegeheim gibt es nicht. Stattdessen: Schokoladenpapier auf dem Sofa, ein vergessenes Taschentuch auf dem Fußboden. „Hier muss es nicht steril und kühl sein, die Leute sollen leben und sich nicht dauernd an Gepflogenheiten halten müssen“, meint Bärsch.
Teil des Konzepts ist seit kurzem auch der Sinnengarten. Hier können anhand von Wasserläufen, einem Insektenhotel, einem Barfussfeld, Klangspielen, einer Bodenhülsenorgel, oder erwähntem Newton-Pendel die Sinne wieder entdeckt werden. „Wir ermutigen unsere Bewohner dazu, mal barfuss durch Ostseesand zu laufen oder sich am Kamin zu wärmen.“
Durch diese Maßnahmen, so Bärsch, fühle sich jeder wohl im Altenpflegeheim. Wer doch mal auf die Idee käme, einfach „durchzubrennen“, wie das bei Demenzkranken häufig der Fall sei, wird auf wirksame Weise gebremst: Die Ausgangstür einer jeden Etage ist im Stil einer Mauer verkleidet. Und wird schlicht nicht als Tür erkannt. Bislang habe diese Maskerade aber noch keinem Bewährungstest standhalten müssen.
Hans Werner Bärsch ist für sein Engagement im sozialen Bereich für die Sachsen Asse 2005 nominiert, die am 26. November im Congress-Center Dresden verliehen werden. Die Stiftung würdigt jedes Jahr Menschen, Institutionen, Unternehmen oder Vereine, die Besonderes geleistet haben.
Erschienen am 13.08.2005 im Blitzpunkt Mittweida, Blitzpunkt Erzgebirge und der Sonderbeilage „Leben“ des Blitzpunkt Chemnitz.