Es passiert nicht oft, dass ich sprachlos bin. Oder nicht weiß, wie ich einen Text beginnen soll. Bei diesem Text hier ist es so. Wie beginnt man einen Text, in dem man beschreiben wird, wie es ist, wenn direkt vor den eigenen Augen jemand stirbt? Wie beschreibt man, was man gar nicht beschreiben kann? Die Ohnmacht? Das Unfassbare, das erst langsam in einem hochkriecht und dann plötzlich umschlägt in die Gewissheit, dass das Ganze, was man gerade erlebt hat, wirklich passiert ist…
Freitagabend. Wir sind mit guten Freunden beim Passagenfest. Vor Specks Hof bleiben wir stehen. Von gegenüber wird mit dem Beamer die Hauswand angestrahlt. Gegen 22.50 Uhr beginnt eine effektvolle Show. Mit Musik unterlegt werden 3D-Bilder an die Fassade gestrahlt. Die Jahreszahl 1924 wird eingeblendet. Von unten steigen blaue Blubberblasen nach oben. Auf einmal beginnt ein Saxofonist zu spielen, angestrahlt von einem Spot. Fast ganz oben sitzt er auf einer Balkonbrüstung. Etwas mehr als eine Minute spielt er ein Lied. Dann ist es zu Ende, der Spot geht aus, die Zuschauer applaudieren.
Unmittelbar danach passiert das, was so unbegreiflich ist und wohl auch eine Weile bleibt. Etwas Großes fällt zu Boden. In den letzten Millisekunden sehe ich noch, dass es sich dabei um einen Mann handeln muss. Er rudert mit den Händen. Danach folgt ein Geräusch, von dem ich niemandem wünsche, dass er es jemals hören muss. Stille. Gefühlt 10 Sekunden ist totale Stille vor dem Gebäude. Bis die ersten begreifen: Hier ist keine Puppe runtergefallen, das gehörte nicht zur Show. Erste Menschen laufen hin, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Manche weinen. Schlagartig werde ich kreidebleich, mir wird heiß, auf der Stirn bildet sich kalter Schweiß. Auch meiner Familie und unseren Freunden geht es nicht besser. Wir müssen uns setzen. Ich habe mit Sicherheit einen leichten Schock.
Etwa 15 Minuten dauert es, bis der Notarzt kommt. Eigentlich ein Unding, mitten in der Innenstadt und während eines Festes. Der Arzt kann nichts mehr tun. Wir sitzen immer noch in der Nähe dieser unbegreiflichen Szenerie. Später wechseln wir in ein Restaurant, trinken einen Kaffee, versuchen das Ganze zu verarbeiten, zu begreifen. Inzwischen habe ich die Kollegen bei LVZ-Online mit den ersten Informationen versorgt. Zum selbst Schreiben habe ich keine Kraft.
Die Nacht ist schlimm. Mehrfach wache ich auf, merke, dass ich davon geträumt habe. Meiner Familie geht es nicht anders. Auch der Freund, der wie ich den Sturz komplett mitbekommen hatte, berichtet am nächsten Tag von einer grausamen Nacht. Rund 20 Mal, schätzt er, habe er den Mann im Traum fallen sehen.
Am nächsten Tag liegen Blumen vor dem Haus. Gegen Mittag zieht ein indischer Wagen durch die City, begleitet von dutzenden Sängern in bunten Gewändern. Direkt vor dem Unglücksort wird einem gewissen Krishna gehuldigt. Krishna – eine hinduistische Form des Göttlichen. Ein Gott, der Mensch geworden ist. Wie grotesk. Ein bunter Wagen mit laut plärrender Musik und wild hüpfenden Menschen zieht an den Blumen und dem Grablicht vorbei.
Nein, es gibt keinen Gott. Nicht an diesem Wochenende. Und auch sonst nicht.
Kurzer Nachtrag, weil ich darauf angesprochen wurde: Natürlich gestehe ich jedem seine Religion und die Ausübung selbiger zu. Das oben beschriebene bezog sich lediglich auf die unwirkliche Szenerie eines bunten, lauten Wagens mit fröhlichen Menschen, die an den Blumen vorüberzogen – und sicherlich gar nicht wussten, was sich da wenige Stunden vorher abspielte.
Lieber Daniel,
ich wünsche Dir, deiner Familie und deinen Freunden viel Kraft dieses Erlebnis zu verarbeiten. Vergessen kann man so etwas nie.
Hallo Daniel… Ich war ebenfalls Vorort und habe leider auch den tragischen Unfall mit ansehen müssen. Deine Zeilen sprechen mir aus der Seele…. genau so habe ich es auch empfunden…. unwirklich und so unbeschreiblich erschreckend… Es ist so schwer Worte dafür zu finden….Ich kann bis heute nicht glauben, was ich gesehen habe. Die Zeit bis zum Eintreffen der Rettungskräfte erschien mir, wie eine Ewigkeit. (Waren es wirklich nur 8min????) Und wie bei deinem Freund, fällt seitdem in jeder Nacht, DER, der eben noch so wundervoll Saxophon gespielt hat, wie in einem Filmstreifen zum x-ten Mal die Fassade herunter….
Viele Grüße Annett
Hallo Annett, vielen Dank für Deine Worte. Uns kamen die acht Minuten auch länger vor. Womöglich spielt das aber auch keine entscheidende Rolle. Ich vermute, auch nach 5 Minuten hätte man nichts mehr tun können. Ich hoffe für Dich, dass Du bald wieder gut schlafen kannst. Bei mir geht es mittlerweile wieder. Ich hoffe, dass der Körper bzw. Geist das nicht nur überspielt, sondern tatsächlich verarbeitet hat.